Werbung
Werbung
Werbung

Die Hans Stur Volksschule in Wiener Neudorf will eine "Schule für alle sein". Eindrücke aus einer "inklusiven", wertschätzenden Welt des Lernens.

Wieviel wiegt eine Tonne? Viel! Sehr viel! Mehr als das Auto der Frau Lehrerin! Die Münder stehen offen, als Claudia Müller und Susanne Preinsperger den Kindern an diesem Montagmorgen im Sitzkreis um vier Plakate herum die Schwere der Gewichte erklären. Reihum wird eifrig mitgeraten, wie viel Gramm denn ein Deka vereint und wie viel Kilo sich in einer Tonne tummeln. Nur einer hat sich in die Leseecke verkrochen. "Dennis komm, wir brauchen dich!", ruft Claudia Müller dem blonden Buben zu. Doch nichts passiert. Plötzlich vernimmt man ein lautes "Gramm" aus seiner Richtung. Schließlich überwiegt doch das Interesse: Aus einem Arbeitsblatt schneidet Dennis einen Elefanten aus - und legt ihn stolz auf das Tonnen-Plakat.

Das Gleiche, nicht dasselbe

"Das war ein gutes Beispiel für das Prinzip Teilhabe, um das es uns geht", wird die Sonderpädagogin Müller später in der Pause sagen. "Im abstrakten Denken liegt Dennis einige Jahre zurück, da nimmt er sich raus. Aber inhaltlich ist er voll dabei." Nach dem Motto: "Alle machen das Gleiche - aber nicht dasselbe" wird oft gearbeitet: Während die anderen eine Schularbeit schreiben, kurvt Dennis Buchstaben nach. Und die drei weiteren Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in der Klasse sitzen, werden dann -entsprechend ihrem Lehrplan - vor leichtere Aufgaben gestellt.

Diese Wertschätzung gegenüber den individuellen Bedürfnissen jedes Kindes ist nicht nur in der 4A-Klasse eine Selbstverständlichkeit. Die gesamte Hans Stur Volksschule in Wiener Neudorf hat sich dem "inklusiven Unterricht" verschrieben - ebenso wie die vier Kindergärten und die zwei Schülerhorte der 8400-Einwohner-Gemeinde im Süden Wiens. Basis ist der "Index für Inklusion", den man im Mai dieses Jahres gestartet hat. Ziel dieses Schulentwicklungsmodells, das in den 90er Jahren von Tony Booth und Mel Ainscow in Großbritannien entwickelt und später von Ines Boban und Andreas Hinz für deutsche Verhältnisse adaptiert wurde, ist es, eine "Schule für alle" zu schaffen. "Es geht dabei um die Frage, wie mit Vielfalt und Differenz umgegangen wird - mit Menschen mit oder ohne Behinderung, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe oder Religion, verschiedenen Geschlechts oder Alters", erklärt die Sonderpädagogin Maria-Luise Braunsteiner, die das auf drei Jahre angelegte Wiener Neudorfer Projekt an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Baden wissenschaftlich begleitet. Gehe es bei der Integration noch um das "Zweigruppenmodell" - etwa um Kinder mit oder ohne sonderpädagogischem Förderbedarf -, so nehme eine inklusive Pädagogik die gesamte Schülerpopulation mit den gemeinsamen und je individuellen Bildungs-und Erziehungsbedürfnissen in den Blick.

Wie weit man in Wiener Neudorf in Sachen "Inklusion" bereits ist, soll jener Fragebogen zeigen, der im Juni an Lehrende, Eltern und Kinder verteilt worden ist und derzeit noch ausgewertet wird. "Jede/Jeder fühlt sich in der Schule willkommen" oder "Die Kinder helfen einander" lauten etwa Beschreibungen, denen man - je nach Wahrnehmung - mehr oder weniger beipflichten soll. Auf Basis dieser Selbstevaluierung sollen vom zwölfköpfigen Index-Team unter der Leitung von Claudia Müller Maßnahmen ergriffen werden, um an der Schule eine wertschätzende Kultur zu schaffen und zudem die Nahtstellen - etwa zwischen Kindergarten und Schule - zu entschärfen.

Inklusion mit Grenzen

So weit man in der Hans Stur Volksschule schon gekommen ist: In der Praxis hat die Inklusion noch ihre Grenzen. "Es sind unter diesen Rahmenbedingungen sicher nicht alle Kinder integrierbar", erklärt die Sonderpädagogin Margret Doll, die gemeinsam mit Martina Casari die 3A-Klasse - darunter vier schwerst behinderte Kinder, ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf und ein legasthenisches Kind - betreut. "Manche Kinder werden bei einer so großen Gruppe einfach aggressiv." Von heute auf morgen die Sonderschulen zu schließen, sei also illusorisch. Auch müsse man darauf achten, dass es in Integrationsklassen "eine bunte Mischung" gebe und auch gut und hoch begabte Kinder vertreten seien.

Die Vorteile von Integration bzw. Inklusion liegen für Doll dennoch auf der Hand. "Es geht um eine Selbstverständlichkeit des Miteinander", erzählt sie - und zeigt in Richtung von Veronika. Das blonde Mädchen hat Down-Syndrom - und ist das Herzblatt der Klasse. "Manchmal kontrolliert sie die anderen Kinder beim Lesen, obwohl sie das gar nicht kann", erzählt Doll. "Aber das macht den anderen nichts aus. Dafür ist sie zu beliebt."

Nähere Infos unter

www.vswr-neudorf.ac.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung