Das verdrängte Leiden

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Inkontinenz, also unfreiwilliger Harnabgang, ist keine unausweichliche Alterserscheinung, sondern kann auf vielerlei Arten behandelt werden.

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Inkontinenz, also unfreiwilliger Harnabgang, ist keine unausweichliche Alterserscheinung, sondern kann auf vielerlei Arten behandelt werden.

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Herr Albert genießt sein Leben, ist er doch seit Anfang dieses Jahres in Pension. Voller Vorfreude auf einen Spaziergang im Frühsommer setzt er sich in die Straßenbahn. Er sieht aus dem Fenster, plötzlich wird es warm im Bereich seines Unterleibes. "Nicht schon wieder" durchfährt es ihn. Langsam verbreitet sich ein leicht säuerlicher Geruch, die ältere Frau, die ihm gegenübersaß steht auf und setzt sich woandershin. Herr Albert ist verzweifelt, denn dieses Malheur war ihm nun schon öfter passiert.

Herr Albert leidet unter unfreiwilligem Harnabgang, der in der medizinischen Fachsprache auch Harninkontinenz genannt wird. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung, also 350.000 Österreicherinnen und Österreicher sind davon betroffen. 15 Prozent aller zu Hause lebenden über 60jährigen und 60 Prozent der älteren Menschen, die in Senioren-, Alten- und Pflegeheimen wohnen, leiden unter unfreiwilligem Harnabgang. Es ist keine Krankheit für sich, sondern ein Krankheitssymptom, daß durch unterschiedliche Mechanismen verursacht wird.

Das Leiden bringt für die Betroffenen eine Reihe von Umständen mit sich, die deren Lebensqualität erheblich verschlechtern. Dazu gehört der nicht unterdrückbare Harndrang mit Harnabgang, der für den Patienten und seine Umgebung eine Belästigung durch Nässe und Geruch zur Folge hat. Für den Kranken kommt es auch zu einer Störung der Nachtruhe und zu einer Einschränkung der täglichen Aktivitäten, bedingt durch die Notwendigkeit, sich dauernd in der Nähe einer Toilette aufhalten zu müssen. Die Patienten fühlen sich unattraktiv, beginnen sich zu hassen, glauben nicht mehr gesellschaftsfähig zu sein. Die Betroffenen ziehen sich aufgrund ihres Leidens völlig zurück und geraten oftmals in gesellschaftliche Isolation.

Mit dem Verlust der sozialen Kontakte verlieren diese Menschen in vielen Fällen auch ihr Selbstwertgefühl und erkranken an Depressionen. Viele an Inkontinenz leidende Personen suchen gar keine ärztliche Hilfe auf, nur ein Zehntel der Patienten steht in regelmäßiger ärztlicher Behandlung. Bei der Inkontinenz kann man mit Recht von einem verheimlichten Leiden sprechen, bei dem viele Betroffene die - falsche - Auffassung vertreten, daß die Harninkontinenz eine unausweichliche Alterserscheinung ist, gegen die es keine Behandlung gibt.

"Viele Menschen reden nicht über ihre Harninkontinenz, verdrängen sie und verzichten lieber auf einen schönen Abend unter Freunden und Bekannten, anstatt endlich mit jemandem über das Problem zu sprechen. Warum? Schließlich ist Inkontinenz eine Krankheit und kein Fehlverhalten", ermuntert der Urologe und ärztliche Direktor des Landeskrankenhauses Innsbruck Helmut Madersbacher die Betroffenen. Denn einem Großteil der Kranken kann nach dem heutigen Stand der Medizin und aufgrund neuer Produktentwicklungen geholfen werden.

Die Harnblase ist ein Hohlmuskel, der mit einem Verschlußmechanismus ausgestattet ist.

Eine Fehlfunktion des Blasenmuskels (Detrusor) oder des Verschlußapparates (Sphinkter) kann einen unfreiwilligen Harnabgang zur Folge haben: Blasenmuskelüberaktivität, Schließmuskelschwäche oder ein Hindernis am Blasenausgang; ebenso Erkrankungen des Rückenmarks oder Einschränkungen der Gehirnleistung. Das Ursachenspektrum der Harninkontinenz ist vielschichtig und daher ist eine sorgfältige Abklärung der Ursache unumgängliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung.

In den meisten Fällen wird Harn- und/oder Stuhlinkontinenz im Alter auf eine mangelhaft gewordene Kontrollfunktion des Zentralnervensystems über Harnblase beziehungsweise Mastdarm zurückgeführt. Dies ist oft die Folge alters- oder krankheitsbedingter Abbauvorgänge im Gehirn. Auch andere altersbedingt auftretende Erkrankungen wie beispielsweise Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), periphere Nervenerkrankungen oder eine Prostatavergrößerung können die Funktion der Harnblase und des Schließmuskels beeinträchtigen und damit Inkontinenz auslösen.

Die Behandlung der durch eine Überfunktion der Blase verursachten Harninkontinenz ist heute Aufgabe eines gezielten Verhaltenstrainings, das durch die Verabreichung bestimmter Medikamente unterstützt wird. Bei schließmuskelbedienter Harninkontinenz kommt es mit Maßnahmen wie dem Beckenbodentraining bei 60 Prozent der Betroffenen zu einer erheblichen Verbesserung ihrer Lebensqualität. Auch Blasentraining und Toilettentraining können hilfreich sein. Ist die Harninkontinenz trotz aller heute zur Verfügung stehenden Therapien und Medikamente nicht beherrschbar, können spezielle Windeln (bei Frauen) oder ein externer Katheter (bei Männern) die Situation wesentlich erleichtern.

Wichtig ist, daß Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, sich ohne Scheu helfen lassen und ihr Leiden nicht verheimlichen. Michael Probst, Chefarzt der Chirurgischen Klinik des Klinikums Lippe-Lemgo in der Bundesrepublik Deutschland: "Inkontinenz ist eine Erfahrung, die die Betroffenen schockieren muß. Im Gegensatz zu Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Zuckerkrankheit, die ein Sozialprestige haben - man kann darüber reden - wird die Inkontinenz als ein Makel empfunden, den der Betroffene glaubt, für sich behalten zu müssen. Dies ist umso unverständlicher als wir in einer Zeit leben, in der das sich outen, das heißt das sich zu Lebensumständen oder Neigungen zu bekennen, zu einem Bestandteil des sozialen Umfeldes geworden ist."

Hilfe für Inkontinenzkranke: Medizinische Gesellschaft für Inkontinenzhilfe ÖsterreichSpeckbacherstraße 1 6020 Innsbruck Tel.: (0512) 58 37 03

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