Bestandsgarantie für den Sozialstaat

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Die Verankerung der sozialen Verantwortung des Staates in der Verfassung ist notwendig und keine Allmachtsfantasie.

Mit Ausnahme von Österreich und Großbritannien, das keine Verfassung im traditionellen Sinne kennt, ist in den Verfassungen aller anderen EU-Mitgliedsländer die soziale Verantwortung des Staates - sei es in Form von Sozialstaatsklauseln wie in Deutschland, Spanien und Portugal oder in Form von sozialen (Grund-)Rechten - verankert.

Haben all diese Staaten unerfüllbare Erwartungen erweckt? Wer nicht bloß räsoniert, sondern die Entwicklung in diesen Ländern betrachtet, wird diese Behauptung nicht teilen können. Wer sich im österreichischen Sozialstaat umtut, wird sehr schnell in Erfahrung bringen, dass die Sicherung des Lebensstandards nichts Theoretisches ist, das erst durch eine Verfassungsverankerung erreicht würde, sondern bereits Ziel bestehender, einfach gesetzlich geregelter Sozialversicherungsnormen ist. Ungeachtet dessen: In Zeiten, in denen der neoliberale Mainstream europaweit Politik prägt, halten wir es für unverzichtbar, den Sozialstaat als Staatsziel in der Verfassung zu verankern.

Neoliberale flüchten zur Begründung ihrer Option nicht in pseudoreligiöse Chiffren, für sie geht es um eindeutige Prioritäten: mehr Markt, mehr Eigenvorsorge, Sicherung des Wirtschaftsstandortes zu Lasten von Sozialstandards, Privatisierung und Individualisierung der Problemlösungen, nicht zuletzt Rückzug des Staates. Der Weg zu einem derart angepeilten Minimum-Sozialstaat ist mit Sozialabbau, mit mehr Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung gepflastert. Fragen des sozialen Ungleichgewichts bzw. Ausgleichs sind, wenn überhaupt, nur im Fall sozialer Bedürftigkeit relevant. Dies ist ein Bild, das dem Sozialstaat à la Österreich diametral entgegengesetzt ist. Dessen Kernfunktion bestand traditionell in der staatlich geregelten Absicherung der Teilhabechancen vor allem von Erwerbstätigen, ihrer Familien, wie auch von Bedürftigen. Eingelassen in diese Konfiguration ist Solidarität im Unterschied zu Formen privater Vorsorge.

Wir gehen davon aus, dass der Sozialstaat auch unter den absehbar veränderten Bedingungen beispielsweise in der Erwerbsarbeitswelt unverzichtbar sein wird. Dass wir mit dieser Annahme richtig liegen, zeigen zum einen verschiedene Umfragen in den letzten Wochen: von annähernd 90 Prozent der Befragten gibt es Zustimmung zu den Forderungen des Volksbegehrens. Zum anderen zeigt ein Beispiel wie der Zusammenbruch des Enron-Konzerns in den USA, dass auf betriebliche, private Pensionsvorsorge nicht immer Verlass ist.

Dass der derzeitige Finanzierungsmodus, der im 19. Jahrhundert erfunden wurde und auf die Lohnsumme als Maßstab der betrieblichen Beitragsleistung abstellt, für eine Wirtschaft mit enorm hoher Rationalisierungskapazität nicht ausreichend ist, hat in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre bereits Dollfuß erkannt. Viele Einkommen und Vermögen werden heute an der Beitragsleistung vorbeigeführt. Nur wer nicht bereit ist zu Veränderungen, wird den Sozialstaat und die auf diesem Weg erreichbare Absicherung von Teilhabechancen gefährden. Was Weß entgeht: Die politische Umsetzung des Volksbegehrens würde noch vor einer allfälligen Befassung der VerfassungsrichterInnen jede Regierung und jedes Parlament binden - ungeachtet der Kräftekonstellation. Eine derartige Umsetzung wird die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht verhindern, sondern im Gegenteil: sie wird ein Anstoß dazu sein. Möglicherweise ist dies nicht im Sinne derer, die zur Zeit regieren.

Prioritäten setzen

Es geht also nicht um die Allmacht des Staates, sondern um gesellschaftspolitische Prioritäten, es geht darum, ob der Staat, seine entscheidungsrelevanten Repräsentanten dazu verfassungsmäßig verpflichtet werden, soziale Verantwortung wahrzunehmen oder nicht. Ersteres ist Anliegen unseres Volksbegehrens.

Ist es eine Allmachtsfantasie, wenn der deutsche Bundesverfassungsgerichtshof entscheidet, dass die Nulldefizit-Strategie der Bundesregierung nicht zu Lasten der sozial Schwachen gehen darf? Ist es ein Allmachtsmythos, wenn die österreichische Verfassung bisher schon die Verpflichtung staatlicher Regelungen zu Umweltverträglichkeit und zur Gleichstellung der Geschlechter beinhaltet?

Weder der Markt noch die Familie oder karitative Tätigkeiten reichen aus, um Teilhabechancen von Erwerbstätigen, ihren Familien und von Bedürftigen ausreichend zu sichern - insofern ist der Sozialstaat zu einem unverzichtbaren Faktor in unserer Gesellschaft geworden. Sollen alle diesbezüglichen Regelungen tatsächlich einer einfachen parlamentarischen Mehrheit zur Disposition stehen? Wird nicht gerade durch die Verankerung in der Verfassung der politische Ausgleich grundgelegt? Wäre die Sozialverträglichkeitsprüfung bereits in der Verfassung verankert, würden Gesetze wie die Abschaffung des Entgeltfortzahlungs-Fonds mit ihren prekären Folgen für Menschen mit größeren Gesundheitsproblemen ganz anders zur Diskussion stehen.

Was heute als Problem ansteht, wurde im Sozialwort der christlichen Kirchen treffend umschrieben: Es geht darum, den sozialen Grundwasserspiegel in unserer Gesellschaft wieder anzuheben. Das Volksbegehren "Sozialstaat Österreich" kann dazu beitragen.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

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