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Prag zwischen Ost und West

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Jenseits aller weltanschaulichen und politischen Gegensätze sind sich die tschechoslowakischen Parteien in einem Punkt einig: sie sehen die Bürgschaft für die nationale Sicherheit der Tschechoslowakei derzeit im Pakt mit der Sowjetunion liegen. Als Grund dafür wird neben der Tatsache der slawischen Verbundenheit vor allem die bis heute nicht überwundene Enttäuschung über das Verhalten der Westmächte im Krisenherbst 1938 angeführt. Diese Orientierung hindert jedoch führende Tschechen nicht, bewußt eine geistige Synthese zwischen Ost und West anzustreben. Namentlich katholische Kreise, die sich um einige hervorragend geleitete Zeitschriften scharen, aber auch mancher mehr links stehende Kulturpolitiker, der sich ein selbständiges Urteil bewahrt hat — sie alle sind überzeugt, daß die Tschechen und Slowaken berufen seien, die Vereinigung östlicher und westlicher Kulturformen beispielhaft und in einer für die ganze Welt gültigen Weise zu lösen. Der zweite Weltkrieg habe das Gefüge der europäischen Zivilisation dermaßen verändert, daß sich ganz neue Fragen und Aufgaben ergeben, für welche die alten Schlagworte von Ost und West nicht mehr gelten. Die Sowjetunion sei nicht einfach mit dem Kommunismus identisch, sondern bedeute eine ungeheure Anstrengung, den sozialen Umbau mit der Freilegung aller schöpferischen geistigen und kulturellen Kräfte der russischen Geschichte zu vereinen. Der Westen sei nicht einfach ein konservatives und antisozialistisches Gebilde, sondern bedeute den großartigen Kampf um persönliche Freiheit im Rahmen der klassischen christlichen Bildung, die sich vom Feudalismus über das Zeitalter des Bürgertums zu neuen Formen des sozialen Lebens hin entwickle. Sozialismus im Verein mit den politischen Methoden des Westens; die Tradition der Humanität im Verein mit der Kühnheit wirtschaftlicher Planungen und Lösungen, fern allen konservativen Hemmungen — so etwa stellt man sich in Prag die erstrebte Synthese zwischen Ost und West, auf eine kurze Formel gebracht, vor. Und, so meint man, sie könnte nicht gelingen, wenn sich Tschechen und Slowaken nur der einen oder anderen Seite zuneigten.

Am raschesten hält man Ergebnisse auf kulturellem Gebiet für mögh'ch. Deshalb plant man, Prag zu einem kulturellen Zentrum auszubauen, „das gleichzeitig die Aufgaben Berlins und Wiens übernehmen würde.“ Das beabsichtigte Filmfest Ende April, das Musikfest im Mai, vorgesehene Kunstausstellungen, alles dies sollen bereits erste Schritte zur Schaffung des kulturellen Mittelpunktes Prag sein, das einmal seinen international anerkannten „Kunstsommer haben würde wie Paris seine Herbstsalons.“ Man sieht, der nationale Ehrgeiz ist weit gespannt. Ähnlich wie 1919, da ein Prager Blatt prophezeite, daß auf dem Wiener Stephansplatze bald das Gras wachsen werde.

Ein Wettbewerb zwischen Prag und Wien hätte in mancher Hinsicht gewiß, fair geführt, seinen hohen Reiz. — Es würde unf dabei nicht bange sein.

Um die Bildungselemente moderner Erziehung.

Auch England hat jetzt seine Debatte über die Erfordernisse zeitgerechter Geistesbildung, soweit sie der Mittelschule zukommt. In einer kurz vor Ostern stattgefundenen Versammlung der angesehenen „Classical Association“, der im Laufe ihres Bestandes eine große Reihe von hervorragenden Männern der Erzieher- und Gelehrten-weft Englands angehört haben, gab der Präsident SirFrankFletcherin seiner Eröffnungsrede dem Bedauern Ausdruck, daß der Zug, dem die Mittelschulbildung in den letzten vier Jahrzehnten gefolgt habe, ein Vordrängen der mathematischen Fächer und das Zurückdrängen der literarischen zeige. „Ich kann auch nicht glauben“, fuhr Sir Frank fort, „daß moderne Geschichte, moderne Sprachen die Grundlage bieten können für folgerichtige Ausbildung und den Schlüssel zu einem größeren geistigen Genuß als unsere Generation von der früheren Art der Bildung hatte. Ich muß es bedauern, wenn Knaben und Mädchen von literarischer oder sprachlicher Begabung zu zwei Sprachen, Latein und Griechisch, und ihrer Literatur nicht die Schlüssel gegeben werden, zu den Toren, die so viel für Generationen und Generationen von Europäern bedeutet haben.“ Der Sprecher erinnerte, daß schon M i 1 n e r als Präsident der Gesellschaft im Jahre 1922 die Frage aufgeworfen habe, wohin die betont natur-

wissenschaftlich-technische Geistesformung

führen werde, indem er sagte:

„Wo wird sie enden, in einem Paradies von Reichtum und Komfort, in dem es nichts Derartiges mehr geben wird wie Armut und wo die noch schlimmeren und häßlicheren Erscheinungen der Arbeit durch mechanische Vorkehrungen ersetzt sein werden, oder in einem totalen Umkippen unserer Zivilisation durch verblüffende neue Maschinen der Zerstörun g?“ In der Denkrede, die A s q u i t h, der

frühere Vorsitzende der* Vereinigung an Prä-

sident Fletcher richtete, fiel das bezeich-, nende Wort: „Ich würde weit eher der Humanitas unter den höher gebildeten Rassen der Menschheit Vertrauen schenken, als dem extensiveren Wissen um die genaue Zusammensetzung des Atoms.“

„Manchester Guardian“ fügte zu der Debatte die feine Bemerkung:

„Je mehr wir die Kräfte der Natur erkunden und so die menschliche Kraft vermehren, desto wichtiger ist es, daß wir den menschlichen Charakter verstehen und uns inspi-

rieren lassen von den großen Dichtern und Denkern der Vergangenheit. Denn die Veränderungen, welche die Beziehungen der Menschen zur Natur vereinfachen, komplizieren die_ Beziehungen von Mensch zu Mensch. Heute, da wir berauschende Triumphe über die Natur erreicht haben, fürchten sich die Völker des Erdkreises mehr vor einander als zu irgendeiner anderen Zeit der Geschichte.“

Richtiger und ernster kann der Tatbestand kaum formuliert werden.

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