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Kubakrise: "Wir" - Chruschtschow und Kennedy

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Zur Kuba-Krise als schwerste Belastungsprobe zwischen Ost und West.

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Zur Kuba-Krise als schwerste Belastungsprobe zwischen Ost und West.

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Die Kubakrise im späten Oktober 1962 wird als schwerste Belastungsprobe für die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken seit der ungarischen Erhebung vor sechs Jahren angesehen.

Damals hatte sich, in schweren Erschütterungen, jenes Gleichgewicht des Schreckens einzupendeln begonnen, auf das Präsident Kennedy in seiner Ankündigung der Kubablockade offen Bezug nahm: „Atomwaffen haben eine derartige Zerstörungskraft und ballistische Raketen sind derart schnell, daß jede wesentlich gesteigerte Möglichkeit für ihren Einsatz oder jede plötzliche Veränderung ihrer standortmäßigen Aufstellung sehr wohl als eine entschiedene Bedrohung des Friedens angesehen werden kann.“

Bedeutungsvoll fügte Kennedy hinzu: „Seit vielen Jahren haben beide, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, diese Tatsache erkannt und die standortmäßige Verteilung von strategischen Kernwaffen mit großer Vorsicht gehandhabt, damit niemals der prekäre Status quo gestört werde...“

Gerade dieses sehr vorsichtige Auf-einander-Rücksicht-Nehmen der beiden Giganten in den letzten Jahren ging einigen ihrer Freunde sehr auf die Nerven: Nicht alle drückten ihren Zorn und Unmut darüber so offen aus wie die Chinesen und die Albaner an die Adresse Chruschtschows. Im Wort milder gehaltene Vorwürfe an die Adresse Kennedys aus deutschen und anderen Kreisen zielten in dieselbe Richtung. Beide Angriffe, die gegen Chruschtschow von Seiten innerer und äußerer Gegner und Freunde und die gegen Kennedy von Seiten innerer Gegner und äußerer Freunde, übersahen dies und schössen wahrhaft über ihr Ziel hinaus: Wenn es nämlich dazu kommen sollte, daß die beiden Giganten zusammenstießen mit der Zerstörungsmacht ihrer Waffen, würde sich eine „Kritik“ weithin selbst aus der Welt schaffen. Es bliebe neuseeländischen, australischen, vielleicht auch chinesischen Historikern überlassen, die Herkunft und die Zukunft der Ruinen und der verseuchten Gebiete in Europa, Afrika und Amerika zu untersuchen.

Kritisiert, beargwöhnt, verdächtigt hatte sich also „seit vielen Jahren“, um mit Kennedy zu sprechen, ein Gleichgewicht der Waffen und ihrer Standorte eingependelt, ein Gleichgewicht, das allerdings täglich bedroht wird durch neue Erfindungen, neue gelungene Raumflüge, neue Tests und sogar durch die täglichen „Übungen“, um dieses Gleichgewicht zu erhalten. Von diesen höchst gefährlichen Übungen wird noch zu sprechen sein.

Alarmiert wurde nun die Welt durch die sowjetrussische Unternehmung, Kuba als Raketenbasis gegen den amerikanischen Kontinent aufzubauen. Es gelang Präsident Kennedy, durch eine Blockade, durch die Androhung anderer, noch schärferer Maßnahmen, die Russen, konkret Chruschtschow, zur Aufgabe des Kubaraketenstützpunktes zu bewegen. Die dreifache Frage, die wir uns alle heute stellen müssen, lautet also:

• Warum unternahm Chruschtschow seinen Kubaschachzug?

• Warum zieht er seine Figuren, seine Waffen zurück?

• Was steht im nähen Tor der Zukunft?

Am 21. Oktober, am Vortag der Kubakrise, erinnert die Prawda in einem großangelegten Artikel an Lenins Ringen um den Frieden von Brest im Winter 1918. In dem von drei Autoren gezeichneten Aufsatz wird das dramatische Ringen Lenins mit seinen eigenen Parteigenossen um den Friedensschluß aufgezeigt. Lenin predigte damals gegen die Mehrheit und gegen andere führende Köpfe in der Partei: „Die Wiederholung revolutionärer Losungen ohne Berücksichtigung der objektiven Bedingungen der gegebenen Situation sind revolutionäre Phrasen. Die revolutionäre Phrase von einem .revolutionären Krieg' kann unsere Revolution zugrunde richten.“

Man braucht nur Chruschtschow an die Stelle Lenins einzusetzen und erhält einen Einblick in die dramatische Situation im heutigen Weltkommunismus. Da, wo damals Trotzki und Bucharin gegen Lenin standen und auch Stalin — von dem die „Prawda“ am 21. Oktober 1962 vermerkt: „In diesem für die Partei schwierigen Moment hat auch Stalin eine falsche Stellung bezogen“ — da stehen heute gegen Chruschtschow: Chinesen, mit ihnen Fidel Castro, asiatische, südamerikanische, afrikanische Kommunistenführer und ihre Gesinnungsgenossen in Moskau, in und um den Kreml. Sie alle wollen den „revolutionären Krieg“.

Die Prawda erklärt nun: „Schon damals hat Lenin das Prinzip der friedlichen Koexistenz von Ländern mit verschiedener Gesellschaftsordnung begründet.“ Gegen die Behauptung linker Kommunisten, die Interessen der Weltrevolution verböten jeden Frieden mit einem kapitalistischen Land, erklärt Lenin: „Die Unrichtigkeit solcher Auffassungen ist augenscheinlich. Eine sozialistische Republik, die inmitten imperialistischer Mächte liegt, könnte, wenn man die Dinge so betrachtet, keinerlei wirtschaftliche Verträge abschließen, sie könnte nicht existieren, ohne auf den Mond zu fliegen.“

Die „Prawda“ nimmt also am Vortag der Kubakrise gegen ein revolutionäres Kriegsexperiment genau in dem Sinne Stellung wie Chruschtschow in seinem Brief vom 28. Oktober an

Was geht hinler seiner Stirne vorl Kennedy, mit dem er die Krise zu beendigen wünscht.

Warum ist sie dann so hochgespielt worden?

Chruschtschow weiß sich als ein Führer des Weltkommunismus, als ein umstrittener Führer, verpflichtet, so weit wie möglich vorzustoßen, um die am weitesten vorgetriebenen Bastionen, die ohne Krieg erreichbar sind, zu besetzen. Die Kubaraketenstellung hätte ihm bedeutende Vorteile im Ringen um Berlin verschafft. Sein erster Vorschlag, die USA zur Aufgabe ihrer Raketenpositionen in der Türkei zu bewegen, gegen Aufgabe seiner Raketenstellung in Kuba, weist jedoch bereits auf seine tief erliegende Beunruhigung hin: Die Russen glauben tatsächlich, daß es den Amerikanern gelungen ist, die UdSSR einzukreisen, immer näher zu Lande, unter Wasser und in der Luft.

In dem in der österreichischen Presse leider nur sehr auszugsweise zitierten Brief Chruschtschows an Kennedy, in dem der sowjetische Staatschef den Abzug seiner Raketen und Offiziere ankündigt, ist sehr, sehr ausführlich von den Aufklärungsflügen amerikanischer Flugzeuge über der UdSSR die Rede. Soeben haben Flugzeuge dieser Art einen Beweis ihrer Leistungsfähigkeit über Kuba erbracht . .. Chruschtschows Sorge, überspielt, unterwandert, überflogen zu werden, ist echt.

In seinem Brief an Kennedy- wird sechsmal, in bedeutendem Zusammenhang, von „Vertrauen“ und fünfmal, in nicht minder bedeutendem Zusammenhang, von „Verantwortung“ gesprochen.

Vertrauen und. Verantwortung: Chruschtschow bekennt, zu Präsident Kennedys Erklärung „Achtung und Vertrauen“ zu besitzen. Er bekennt, gemeinsam mit Kennedy verantwortlich für den Weltfrieden zu sein.

„Darum dürfen w i r, auf denen das Vertrauen und die große Verantwortung ruht, keine Verschlimmerung der Lage zulassen, müssen die Brutstätte, in der eine gefährliche Situation mit ernsten Folgen für den Frieden geschaffen worden ist, liquidieren. Und wenn es uns im Verein mit Ihnen und mit der Hilfe anderer gutwilliger Menschen gelingt, diese gespannte Situation zu liquidieren, müssen wir uns auch damit befassen, daß andere gefährliche Konflikte, die zu einer thermonuklearen Weltkatastrophe führen können, nicht enstehen.“

„Wir“: das sind in Chruschtschows Interpretation die gutwilligen Kommunisten auf seiner Seite, dazu Kennedy und andere „gutwillige Menschen“ — wie etwa Nehru.

Die „anderen“, die andere gefährliche Konflikte provozieren und schaffen, das sind, in der stillschweigenden Interpretation Chruschtschows, die heutigen Pekinger Chinesen, die eben in Indien einfallen, sind wohl auch „westdeutsche Provokateure“. An die wird er bei seinem Besuch in Amerika wahrscheinlich dringend und drängend erinnern.

Man kann Kuba nicht ohne den indisch-chinesischen Konflikt und ohne „Berlin“ betrachten. Im Falle Berlin gehen die Ansichten Chruschtschows und Kennedys schroff auseinander. Im Falle Kubas zeigt Chruschtschow demonstrativ seinen „guten Willen“. Im Falle Chinas und Indiens ergibt sich eine tiefgehende Interessengemeinschaft Rußlands und Amerikas. Das bedeutet nicht, daß diese Interessengemeinschaft von führenden Sowjetrussen und Amerikanern anerkannt, eingestanden wird. Diese Interessengemeinschaft besteht aber angesichts der Tatsache, daß der Kampf um' Asien von China her eröffnet worden ist. Die größten Hungerleider der Weltgeschichte, die größten „Habenichtse“ ziehen an die Front, um Asiens und der benachbarten Inselkontinente Felder zu erobern.

„Wir wünschen nur den Frieden. Unser Land ist jetzt im Aufschwung. Unser Volk erfreut sich der Früchte seiner friedlichen Arbeit. Es hat seit der Oktoberrevolution enorme Erfolge erzielt, hat überragende materielle und geistig-kulturelle Werte geschaffen. Unser Land macht Gebrauch von diesen Werten und möchte seine Erfolge weiter ausbauen, möchte seine weitere Entwicklung auf dem Wege zum Frieden und zum sozialen Fortschritt durch beharrliche Arbeit sichern.“

Chruschtschow schreibt das in dem großen Brief an Kennedy, weil er weiß, daß dieser sich von vielen amerikanischen Rußlandreisenden dies bestätigen lassen kann: Die Völker in der UdSSR wollen Frieden nach Jahrzehnten großer Leiden und Entbehrungen. Sie haben sich einen bescheidenen, teilweise recht ansehnlichen Wohlstand erworben. Gegenüber den riesigen Hungermassen in Asien und Südamerika bilden heute bereits die USA und UdSSR zwei Wohlstandsgesellschaften, die ihren Wohlstand sichern, verteidigen wollen.

Hier wird Chruschtschow bei seinem Besuch in den USA einhaken. Der Zwang, noch mehr aufzurüsten, behindert seine Entfaltung als Volksführer in der UdSSR ebensosehr wie der Druck aus China, Südamerika und von Seiten der „Trotzkis“ und „Bucha-rins“ von heute in Moskau.

Ein kurzer Blick auf die andere Seite: Wie kaum je zuvor seit seiner Wahl hatte Kennedy in diesen kritischen Tagen die gatize Nation auf seiner Seite. Für die westliche Welt ist nicht dies zuletzt die hervorragende Bedeutung dieses seines Erfolges im Weltraumschachspiel mit den Russen: Hier hat ein progressives Team gezeigt, daß es mannhaft, ohne Hysterie, ohne die Nerven, die Geduld, den Mut zu verlieren, zu streiten vermag. Kennedys Erfolg ist eine Niederlage für die neuen McCarthysten, für die neue rechtsradikale Internationale.

Kennedy hat gezeigt: Man kann Antikommunist, erfolgreicher Antikommunist sein, ohne „Antibol-s c h e w i k“ zu sein. Fein formuliert, hat sein Angebot an Chruschtschow, auf eine Invasion in Kuba zu verzichten, diesem seinen Rückzug erleichtert. Kennedy hat es gelernt, auf die Stärken und die Schwächen seines großen Gegners ebenso wie auf die Schwäche und Stärke seines Staates und Volkes zu sehen und gebührend Rücksicht zu nehmen. Er hat, um mit Chruschtschows Worten zu sprechen, „Nüchternheit und Klugheit“ an den Tag gelegt. Kennedy kann auf sich, auf sein politisches Glaubensbekenntnis, den Satz beziehen, zu dem sich Chruschtschow eben im Brief an ihn bekennt: „Wir vertrauen aber darauf, daß die Vernunft siegen wird, der Krieg nicht ausbrechen und Frieden und Sicherheit der Völker gesichert sein werden.“

Welch ein beklemmendes Schauspiel: Auf den Nerven, auf der „Vernunft“, auf der „Nüchternheit und Klugheit“ von zwei Männern scheint der Weltfriede zu beruhen, solange als nicht andere Männer, die nicht „guten Willens“ sind, die Atomwaffen in der Hand haben; und wenn alles gut geht, wenn es nicht zu einem „irrtümlichen Krieg“ kömmt, aus Versehen. Wohl spricht man von einem direkten Draht (Funkverbindung) zwischen Washington und Moskau, um sich in solchen Fällen zu verständigen.

Wirklich vorbeugend gegen diese und jene Schrecken ist jedoch nur eines: eine globale Abrüstung unter Kontrolle der UNO, so wie es jetzt auch Chruschtschow für den Abzug der russischen Waffen aus Kuba selbst angeboten hat.

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