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Die Verstaatlichung des Geistes

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Das einzige Loch im Eisernen Vorhang, durch das sich verhältnismäßig leicht hindurchschlüpfen läßt, ist das zweigeteilte Berlin. Wem es erst einmal gelingt, nach Ost-Berlin zu kommen, der ist bereits mit einem Bein in der Freiheit. Die Kontrollen an den Sektorengrenzen sind mit etwas Glück nicht unüberwindlich, wenn man nicht mehr als eine Aktentasche bei sich trägt.

Wer bereit ist, sein Hab und Gut aufzugeben, wer, sich damit begnügt, ein neues, ungewisses Leben mit dem Inhalt einer Aktentasche zu beginnen, dem steht die Flucht in den Westen offen, vorausgesetzt, daß er nicht wegen politischer Unzuverlässigkeit bekannt ist. Vorausgesetzt auch, daß er seine Flucht in aller Heimlichkeit vorbereitet, daß er seinen' Nerven bis zur letzten Minute ein Doppelleben zutrauen kann. Der politische „Spaltungsirrsinn“ stellt die schwerste Belastung der ostdeutschen Menschen dar: täglich Loyalitätsbekenntnisse dem Ulbricht-Regime zu bezeugen, obwohl man es längst als furchtbare Tyrannis erkannt hat.

Die Deutsche Demokratische Republik entblößt sich nicht nur ihrer Arbeitskräfte, sie verliert in steigendem Maße auch die sogenannte „Intelligenz“. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Arzt, Wissenschaftler oder Techniker die Zone verläßt. Bereits heute gibt es in Ostdeutschland nicht mehr genügend Aerzte, obwohl das Regime durch gute Bezahlung (im Durchschnitt besser als in der Bundesrepublik!) einen materiellen Anreiz bietet. Im ersten Halbjahr 1957 verließen 118 Aerzte die DDR. Im zweiten Halbjahr waren es bereits 178. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1958 kehrten

370 Mediziner dem Ulbrichtschen Totalstaat den Rücken. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um vollausgebildete, bereits praktizierende Aerzte.

In welcher Zwangslage sich die SED durch die Republikflucht befindet, erhellt eine Rede des Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, auf einer Sitzung des Bezirkstages Gera am 30. Juli:

„Erfreulicherweise kann festgestellt werden, daß der Teil der Menschen, die unsere Republik verlassen, im Verlauf des letzten Jahres um 62,4 Prozent zurückgegangen ist1. An diesem Rückgang sind alle Gruppen der Bevölkerung und der sozialen Gliederung beteiligt. Die Republikflucht der Intelligenz ist dagegen in der gleichen Zeit um 2,5 Prozent gestiegen. Der Bezirk Gera steht dabei mit 8,8 Prozent an der Spitze. Das ist ein sehr bedenkliches Zeichen; denn ihr seid euch doch klar darüber, daß der Aufbau des Sozialismus ohne fortgeschrittene Technik und ohne hochentwickelte Wissenschaft nicht möglich ist. Man muß also etwas dagegen tun und diesen Zustand verändern.“

Otto Grotewohl hat es anscheinend noch nicht bemerkt, daß die Wissenschaftler und Techniker Mitteldeutschlands ihre Forschung ohne einengende kommunistische Ideologie betreiben wollen. Die Reglementierung des Geistes durch die sowjetzonale Staatspartei geht so weit, daß es den Wissenschaftlern untersagt ist, westliche Publikationen zu lesen, die für ihre Arbeit wichtig sind, sondern nur den Ausschnittdienst des Innenministeriums. Die SED versucht sich bei dem Problem der Intelligenzflucht in der Quadratur des Kreises. Sie glaubt, daß ihr das Kunststück gelingen wird, den Wissenschaftlern das Denken zu rationieren. Das Nachdenken, so meint die SED, müsse an dem Punkte aufhören, wo wissenschaftliche Erkenntnis die ideologischen Lehren des Bolschewismus ad absurdum führt. Deshalb verlangt Ulbrichts Staatspartei seit Jahr und Tag von den Wissenschaftlern der Zone ein Bekenntnis zum Sozialismus. Die „Parteilichkeit“ soll auf den Hochschulen einziehen, der „Objektivismus“ dagegen ausgerottet werden.

Ulbricht liebt keine „Nur-Wissenschaftler“. Nach seiner Meinung muß Mathematik sozialistische Mathematik sein, Physik muß sozialistische Physik sein, und Medizin ohne sozialistische Ausrichtung ist revisionistische Medizin. Mit Unwissenheit können die SED-Funktionäre ihre Fehlspekulationen den Wissenschaftlern gegenüber nicht entschuldigen. Bereits am 12. April mußte sich Walter Ulbricht in Halle die ungeschminkte Wahrheit anhören. Mit an beruflichen Selbstmord grenzender Offenheit hat das Mitglied der (sowjetzonalen) Deutschen Akademie der Wissenschaft und Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle, Doktor Kurt M o t h e s, Walter Ulbricht die Situation dargelegt:

„Das Problem ist deshalb so ernst, weil tatsächlich viele Professoren ... innerlich nicht zurechtkommen. Sie sind nicht in der Lage, zu begreifen, daß Sozialismus identisch ist mit Atheismus. Für sie ist Sozialismus nicht identisch mit Atheismus. Was sollen diese Professoren tun? Sie meinen, in drei bis vier Jahren ist das anders mit den Professoren. Ich glaube das nicht. Wir sind heute dabei, alles zu nivellieren. Die Professoren leben in einer ständigen Unruhe. Entschuldigen Sie, wenn ich das offen sage, Herr Ministerpräsident2. Sorgen Sie dafür, daß wir wieder etwas ruhiger arbeiten können, und geben Sie uns etwas mehr Vertrauen, nicht nur rrfir, sondern auch den anderen.“

Damit ist der Standpunkt der Wissenschaftler klar. Aber genau das will ja die SED nicht. Ihr geht es nicht um die Wissenschaft an sich, sondern um eine „sozialistische Wissenschaft“. Genauer gesagt, die SED will die Wissenschaft vor ihren politischen Karren spannen.

Wie weit die Unterdrückung der Intelligenz von der SED bereits getrieben wurde, zeigt das Fiasko von Jena. Genau zehn Tage vor der 400-Jahr-Feier der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität, zu der die geistige Elite Deutschlands, ja Europas eingeladen wurde, floh der Rektor, Prof. Hämel, nach West-Berlin. Die Flucht Prof. Hämels ist ein Höhepunkt in der Auseinandersetzung der SED mit den Hochschulen in der Zone. Diese Flucht zeigt nachdrücklich den eingangs erwähnten politischen „Spaltungsirrsinn“ auf, denn Prof. Hämel sollte als Paradepferd dienen und demonstrieren, daß die SED mit ihrer Hochschulpolitik auf dem richtigen Wege sei.

Am 20. August veröffentlichte das „Neue Deutschland“ einen redaktionellen Leitartikel, in dem die Zonenrepublik „Heimstatt deutscher

Wissenschaft“ genannt wurde. In diesem Artikel heißt es: „Die Friedrich-Schiller-Universität zu Jena feiert Anfang September ihr 400jähriges Bestehen. Gewiß kann diese Stätte akademischer Bildung und wissenschaftlicher Forschung auf bedeutende Traditionen zurückblicken. Und doch - ihre größte Zeit liegt noch vor ihr; sie ist auf dem Wege zur sozialistischen Universität. Sie ist — wie alle Universitäten unseres Arbeiter- und Bauernstaates — in eine neue Epoche eingetreten, die sie zu den Höhen wahrer Wissenschaft, echter Humanitas führen wird. Heute schon, erst am Anfang dieses Weges, hat sie auf vielen Gebieten die Universitäten im Bonner klerikal-militaristischen Obrigkeitsstaat weit überholt ... Die Professoren, Dozenten und Studenten der Jenaer Universität werden an diesem ihrem Ehrentag vor der Oeffentlichkeit bekunden, daß sie bewußt auf der Seite des Volkes und des Friedens stehen.“

Am 22. August meldete sich der Rektor der Jenaer Universität als politischer Flüchtling in West-Berlin.

Die SED hat sich mit ihrer „sozialistischen Umgestaltung der Hochschulen“ in eine Lage . hineinmanövriert, die sie durch brutale Gewalt zu lösen sucht. Analog den Ulbrichtschen Thesen von den beiden deutschen Staaten, versucht die SED, ihre Hochschulpolitik auf die These von den „zwei deutschen Wissenschaften“ aufzubauen. Die „sozialistische Wissenschaft“, so verkündet die SED, stehe im Dienste des Friedens. Die bürgerliche Wissenschaft stehe dagegen im Dienste der Imperialisten in der Bundesrepublik. Damit will die Partei Ulbrichts die letzten Brücken abbrechen, die auf geistigem Gebiete die beiden Teile Deutschlands noch verbinden. Auf einer Rektorenkonferenz Ende vorigen Jahres drohte der Staatssekretär für Hochschulwesen der DDR, Dr. Wilhelm Girnus, ganz offen: „Es ist natürlich klar, daß Wissenschaftler, die sich unserem Staate und seiner führenden Partei gegenüber offen ablehnend verhalten und die Studentenschaft auch in diesem Sinne beeinflussen, von unseren Hochschulen zu entfernen sind.“

Die Wissenschaftler gehen bereits freiwillig.

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