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Die verhängnisvolle Fahrtänderung

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Wo, wann und wie erfolgte nur die verhängnisvolle Programmänderung?

Potiorek darüber: „Nach der Besichtigung (des Rathauses) erklärU Seine Kaiserliche Hoheit, unbedingt ins Garnisonsspital fahren zu wollen… Auf mein Abraten sollte dit Fahrt… nicht auf der programmmäßigen Route durch die Franz- Josef-Straße, sondern wieder entlang des Appelquais erfolgen, weil diese überraschende Fahrtrichtuni zweifellos sicherer erschien. Hierbe mußte vom Rathaus bis zur Abzweigung in die Franz-Josef-Straße wieder ein kleines Stück des Appelquais benützt werden, auf welchen sich nichts anderes ereignete, ah daß die Zurufe der Volksmenge jetzt gerade frenetischen Jubel zum Aus- druck brachten und Seine Kaiserliche Hoheit infolgedessen auch eint Bemerkung gegen Graf Harrach machte, weil dieser… auf dem linken Wagentritt stehen geblieben war, um mit seiner Person Seine Kaiserliche Hoheit gegen Schüsse von links zu sichern. Bei der Einmündung der Franz-Josef-Straße bemerkte ich, daß das vorausfahrende Auto des Bürgermeisters (Fehin Effendi Curčič) im Widerspruch zu der getroffenen Entscheidung in die Franz-Josef-Straße eingebogen sei. Ich rief dem Chauffeur… zu, nicht das gleiche zu tun, sondern am Appelquai weiter zufahren. Das Auto befand sich in diesem Moment knapp am rechtsseitigen, mit Menschen vollbesetzten Trottoir, und ehe der Chauffeur des langsam fahrenden Autos die erhaltene Weisung verstanden hatte, fielen knapp an der rechtsseitigen Autoseite zwei Schüsse, worauf das Auto stehenblieb…”

Potioreks unklare Berichte

Eine Unklarheit, wenn nicht gar Zweideutigkeit, verdient hervorgehoben zu werden: In seinem nach Wien und Budapest — auch an den Kaiser — weitergegebenen Bericht erweckt Landeschef Potiorek den Eindruck, als wäre das Auto der Hoheiten noch, nicht um die Ecke in die Franz-Josef-Straße gebogen, als das Unglück geschah. Er hielt auch den Umstand nicht für erwähnenswert, daß im Leitwagen auch bei dieser Fahrt neben dem Bürgermeister der Regierungskommissär Dr. Gerde saß.

Über die Anordnungen im Rathaus, die das große Verhängnis einleiteten, gibt Freiherr von Morsey Auskunft:

„Außer Potiorek, dem Bürgermeister, dem Polizeikommissär Doktor Gerde, Dr. Starch und Hauptmann Pilz… war niemand von uns Fremden mit den örtlichen Verhältnissen vertraut, das heißt, niemand von uns wußte den relativ ungefährlicheren Weg zur Abfahrt.

Es wurde nun vom Gefolge der hohen Herrschaften empfohlen, direkt zum Konak zu fahren, bei Vermeidung einer Durchfahrt durch die Stadt. Nun resümierte Bardolff noch einmal genau die von Potiorek angegebene Fahrtstrecke und ersuchte Dr. Gerde, dies genauestens zu wiederholen…

… ich kann mich heute noch erinnern, daß Gerde, statt Bardolffs Resümee zu wiederholen, in oberflächlicher Weise und ohne sich nur umzusehen oder zuzuhören, mit einem ,Ja, ja, gewiß’ zur Tür hinaus- und die Stufen zu seinem Auto hinabsprang. Dieses Versäumnis bleibt in meiner Erinnerung als jenes ausschlaggebende Moment haften, das erst den äußeren Umstand der Attentatsmöglichkeit auslöste.

Die Automobile wurden bestiegen, und ganz vorn voraus fuhr den Hoheiten ein Führerautomobil, dessen Insassen Dr. Gerde und der Bürgermeister waren. Dieses Auto mied nicht die vorher genau erwähnten, zu vermeidenden Gassen, sondern bog sogar in diese ein. Gerde hatte eben nicht die Angabe des einzuschlagenden Weges wiederholt. Ein ganz furchtbares Versäumnis, das mit brennender Schrift in der Erinnerung der unmittelbar an den Vorgängen des Katastrophentages Beteiligten dauernd eingegraben bleibt…

… als Exzellenz Potiorek den verhängnisvollen Fahrirrtum bemerkte, rief er: ,Halt! Was ist denn los? Wir fahren ja falsch!’ Einen kleinen Augenblick stoppte das Auto, da — ich sehe es heute noch — fielen keine drei Schritte von vorne rechts mindestens drei Schüsse…”

Nach Freiherrn von Morsey liegt die Schuld für den Fahrtirrtum eindeutig bei Dr. Gerde. Dessen Untergebener, der Regierungskonzipist Wladimir Glück, ist anderer Ansicht. Er bemerkte, keiner von den Offizieren sei auf die Idee gekommen, sich mit den (Polizei-) Beamten des Regierungskommissärs zu beraten. Nach Glück wollte Dr. Gerde den Appelkai räumen lassen, eine Aufgabe, die die Möglichkeiten der Sarajewoer Polizei nicht überfordert hätte. Potiorek, damit einverstanden, wollte aber zuerst den Erzherzog befragen.

Programmäßige Route einhaJten!

Diese Szene hat Glück festgehalten: „Dr. Gerde, von den beiden zu weit entfernt, konnte nicht genau verstehen, was gesprochen wurde. Hinterher scheint der General vergessen zu haben, Dr. Gerde vom Resultat seiner Besprechung mit dem Thronfolger zu unterrichten. Im letzten Augenblick, als die Autos schon zur Abfahrt bereit standen, fragte dann Dr. Gerde den General und erhielt zu seinem Entsetzen nur drei Worte zugerufen: Programmäßige Route einhalten! Von einer Änderung derselben war nicht mehr die Rede. Wahrscheinlich kombinierte Potiorek folgendermaßen: Dr. Gerde soll im Leitauto ruhig die ursprüngliche Route fahren, der Erzherzog aber die abgeänderte; auf diese Weise würden etwaige Attentäter irregeführt.”

Heißt das nicht, daß man schon zu dieser Stunde einander mißtraute? Aber’wie dem auch immer sei, solange man nicht in einem noch irgendwo verborgenen Akt Hinweise findet, muß man sich mit den angeführten Erinnerungsaussagen zufriedengeben.

Für die Glücksche Version spricht der Umstand, daß das Gericht keine Erhebungen über den Fahrirrtum anstellte. Den General und Landeschef über diesen Punkt zu befragen, hielt man wohl für ungehörig. Gewiß wurden die Lenker und zwar ein Wiener, ein Triestiner und der Fahrer des Unglückswagens, ein Mann aus Mähren, ein- vemommen. Aber der, auf den es in erster Linie ankam, nämlich dei Lenker des Leitwagens, wurde nicht gefragt. Bis heute sind uns Name und Nationalität unbekannt Ebenfalls ungefragt blieben die Insasser dieses Wagens, nämlich der Bürgermeister von Sarajewo, Effend: Curčič, und Dr. Gerde selbst. Niehl einvernommen wurden ferner die Beamten’ des Avisoautos, das voi dem Leitwagen fuhr.

„Im Auftrag der Kamarilla”

Der Chauffeur des Unglücksautos, Leopold Loyka, gab zu Protokoll: „Ich habe den Auftrag gehabt, immer dem Automobil de; Bürgermeisters zu folgen, und st lenkte ich auch mein Auto beirr zweiten Attentat.”

Ob er beim Aufenthalt im Rathaus irgendwie instruiert worder war, auch darüber schweigt das Protokoll.

In diesem besonderen Fall zeitigl das Vertuschen von Amts weger arge Folgen: Während des Krieges behauptete die Antiösterreichpropaganda allen Ernstes, das falsche Einbiegen wäre Absicht gewesen. Auf diese Weise hätter Beamte der Landesregierung derr Mörder das hohe Paar „zum Abknallen hingestellt”. Und zwar in Auftrag einer Wiener Hofkamarilla…

Daß ausgerechnet 20 Jahre später Baron Collas mit dem Wort „Kismet” operiert, klingt wie ein Scherz. Denn, wenn schon die Herren der Staatsanwaltschaft der Ansicht waren, der Fahrtirrtum habe nichts mit dem Mordprozeß zu tun, so wäre es in erster Linie die Pflicht und Schuldigkeit des Präsidialchefs der Landesregierung gewesen, eine Disziplinaruntersüchung einzuleiten.

Am Abend, so gegen 22 Uhr, als Princips zweite Einvernahme zu Ende ging, wurden im Konak die entseelten Körper seiner Opfer „zur anbefohlenen Konservierung bereitet” und zu diesem Zweck auf einen mit „Gummibettstoff” bespannten Tisch gelegt. Die Ärzte arbeiteten die ganze Nacht. Ihr Protokoll vom 29. Juni, 6 Uhr, sagt aus, daß an der Leiche des Erzherzogs Franz Ferdinand eine Einschußöffnung zu sehen war, und zwar einen Zentimeter oberhalb des Schlüsselbeines. Die Kugel hatte die Halsvenen durchrissen. Um eine weitere Verletzung der Gefäße, die sich auf die Konservierung nachteilig ausgewirkt hätte, zu vermeiden, ließ man das Geschoß im Körper.

Der Leiche der Herzogin wurde das Corpus delicti entnommen: ein Stahlmantelgeschoß von 9 mm Durchmesser. Es hatte die Bauchdecke durchschlagen und war in den Unterleib eingedrungen.

Sollte Potiorek das Opfer sein?

Nie, weder in der Untersuchung noch während der Hauptverhandlung, auch nicht im Kerker, fand Gavrilo Princip, daß es für ihn etwas zu bereuen gebe. Nein, er stehe zu seiner Tat, voll und ganz; allerdings mit einer Einschränkung: Er habe nicht Sophie von Hohenberg, sondern den Landeschef Potiorek töten wollen.

Am Schluß des zweiten Verhörsprotokolls vom 28. Juni stehen die Worte: „Ich leite gegen Dįęh die Voruntersuchung ein wegen Verbrechen- des Mordes, begangen .dadurch, daß Du hėūte iii dįf’ Abficht den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin, zu töten meuchlings auf sie aus einer Browningpistole aus unmittelbarer Nähe geschossen und beide getroffen hast, wodurch in kurzer Zeit der Tod eingetreten ist.”

Princip fügte von sich aus hinzu: „Ich nehme dies zur Kenntnis und beschwere mich nicht, aber leid tut es mir, daß ich die Herzogin von Hohenberg getötet habe, weil ich nicht die Absicht hatte, sie zu töten.”

Ob dieser Zusatz auf Drängen des Mörders oder als „Antwort auf Befragung” erfolgt war, ist heute wohl nicht mehr zu klären. Gewiß ist, daß der „dolus directus”, der Vor-? satz, auch die Herzogin zu ermorden, bei keinem der Attentäter vorhanden war, doch der Dolus even- tualis läßt sich nicht leugnen. So schleuderte Cabrinovič seine Bombe ohne Bedenken, und auch Princip nahm bewußt unerwünschte Folgen mit in Kauf.

Eine dieser Folgen war der unbeabsichtigte Tod der Herzogin Sophie.

Er war es, der die Tat sogar in den Augen der serbischen Bevölkerung als ruchlos und verwerflich erscheinen ließ.

Und nach Auffassung der Verschwörer war die Ermordung der Herzogin ein Fehler. Ein taktischer Fehler, weil er der angestrebten Wirkung, „die Gewissen aufzurütteln”, Abbruch tat.

Ein Obilič, ein Tyrannenmörder, trifft weder daneben noch schießt er auf ein wehrloses Weib. Dies widerspräche dem Empfinden des Volkes.

Lesen Sie in der kommenden Nummer: Der Holzkoffer des Drlje- vič und die Schuld des verantwortlichen Ministers.

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