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Knowhow-Transfer unter Buckelwalen

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Wann muß eine Tierart für ausgestorben gelten? Wenn man kein Exemplar mehr findet? Wenn die letzten Vertreter so selten geworden sind, daß sie Einzelgänger bleiben? Beobachtungen der Walforscherin Cyn-thia D'Vincent und ihres Mannes Russell Nilson zeigen, daß zum Überleben auch die Möglichkeit der Knowhow-Weitergabe nötig sein kann.

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Wann muß eine Tierart für ausgestorben gelten? Wenn man kein Exemplar mehr findet? Wenn die letzten Vertreter so selten geworden sind, daß sie Einzelgänger bleiben? Beobachtungen der Walforscherin Cyn-thia D'Vincent und ihres Mannes Russell Nilson zeigen, daß zum Überleben auch die Möglichkeit der Knowhow-Weitergabe nötig sein kann.

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Jeder weiß, daß der Nachwuchs vieler Arten in Freiheit nicht überlebt, wenn er keine Gelegenheit hat, das Notwendige von der Mutter oder in der Herde zu lernen. Doch besteht Unklarheit, wie weit die weitergegebene Information genetisch fixiert ist. Oder ob und wie weit sie Erfahrungswissen und damit Produkt einer Tradition darstellen kann.

Cynthia D'Vincent fand viele Hinweise, daß Buckelwale uralte Erfahrungen weitergeben. Sie leistete mit ihren Forschungen über Buckelwale ähnliches wie Jane Goodall für das Verständnis der Schimpansen oder Diane Fossey für das der Berggorillas. Seit zehn Jahren legt sie mit ihrem Mann auf zwei Forschungsschiffen, darunter die Segelyacht „Varua", jährlich an die 50.000 Kilometer zurück. Segelschiffe sind für Walforscher besonders geeignet, weil kein Schraubenlärm die Tiere stört. Der erste Forschungsauftrag für die „Varua" galt der Frage, ob die Buckelwal-Populationen an den Küsten von Südostalaska wegen der Störung durch den Schiffsverkehr zurückgehen.

Eine wichtige Voraussetzung für Forschungen über Verhalten und Sozialstruktur der Wale bildete die Mög-lichkeit, die Tiere jederzeit zu identifizieren. Die Amerikanerin wies nach, daß sich die Zeichnung der Fluke, der Schwanzflosse, dafür nicht weniger gut eignet als beim Menschen der Fingerabdruck-mit dem Unterschied, daß sie oft zu sehen und ihre Zeichnung weithin zu erkennen ist.

Zu D'Vincents wichtigsten Ergebnissen zählen Erkenntnisse über das Beute verhalten der riesigen Tiere, die darauf hinweisen, daß sie in langen Zeiträumen Jagdstrategien entwickelt haben, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Tatsächlich war die Kunst des „kooperativen Fressens", offenbar durch den Abschuß alter, erfahrener Tiere, bereits zum Teil verloren und wurde nur noch von einem Teil der Herden geübt, als die Schutzmaßnahmen zu greifen begannen. Seither nimmt die Zahlder Buckelwalherden, die die Methode anwenden, wieder zu.

Das „kooperative Fressen" der Buckelwale - sie werden deshalb so genannt, weil sie vor dem Abtauchen in die Tiefe häufig einen Buckel machen - ist ein spektakuläres Schauspiel. In einem Trommelfeuer von Luftblasen schießt eine ganze Gruppe, Körper an Körper, mit aufgesperrten Mäulem senkrecht aus dem Wasser und stürzt wieder zurück.

Das Spektakel ist der Höhepunkt der von Cynthia D'Vincent und Russell Nilson erstmals dokumentierten Fangmethode, die zu den komplexesten Verhaltensweisen im Tierreich zählt. Sie ermöglicht es den Walen, auseinerdichten Ansammlung schneller Schwarmfische soviel wie möglich auf einen Schlag zu schnappen. Nachdem die Wale den Schwärm geortet haben (was ihnen auch im Dunkeln möglich ist), wird er auf engstem Raum zusammengedrängt. Sie tauchen unter die Beute, stimmen „Freßgesänge" an und erzeugen dabei oft ein kreisförmiges Netz aus Luftblasen, das die Tiere hindert, seitlich zu entfliehen und sie nach oben zwingt.

Wie durch eine Röhre schießen sie dann zur Wasseroberfläche, wo die Masse zusammengepferchter Heringe brodelt, und schnappen beim Durchstoßen auch noch die im letzten Moment aus dem Wasser gesprungenen Fische. In der auftauchenden Wal-Formation ist jedes Tier so genau positioniert, daß das Wasser voller Fische, das vom Maul der ersten Tiere abläuft, genau in die Mäuler der Nachbarn rauscht.

Der Freßgesang dürfte größere Bedeutung für den Erfolg haben als das Netz aus Luftblasen - gesungen wird immer, ein Luftnetz ausgeblasen etwa jedes dritte Mal. Der durchdringende Gesang der Wale irritiert die Heringe so. daß sie benommen eng zusammenrük-ken. Cynthia D'Vincent bemühte sich beim Fotografieren stets um Sicherheitsabstand, geriet aber einmal mit ihrem kleinen Boot (unter dem das Mikrophon ins Meer hing) direkt ins Geschehen. Die aus dem Wasser schießenden Tiere drehten im Sekundenbruchteil ab, Heringe schössen durch die Luft und landeten im Boot, die neun Wale (300 Tonnen insgesamt!) pral l -ten zusammen und ließen sich ins Meer fallen. Die Forscherin aber saß völlig durchnäßt und geschockt inmitten von Gischt in ihrem unbeschädigtei. Boot.

Sie konnte im Lauf von zehn Jahren 37 Walherden bei 1.200 Freßmanövern beobachten. Die Buckelwale leben in stabilen sozialen Beziehungen. Sie schließen sich oft für Jahre zusammen, Einzelgänger(innen) wechseln zwischen verschiedenen Herden. Weibchen verbringen oft ihr ganzes Leben in derselben. Beim kooperativen Fressen nimmt jedes Tier immer dieselbe Position in der Gruppe ein. und zwar so gut koordiniert, daß bei 130 Auftauch-Vorgängen einer Gruppe innerhalb eines Jahres Position und Körperhaltung jedes Tieres gleichblieben. Als die Herde fünf Jahre später wieder beobachtet wurde, hatte sich nichts geändert.

Buckelwale haben eine festgefügte soziale Ordnung. Die größten und ältesten führen an. Die Tiere in der Mitte, die beim Auftauchen am weitesten aus dem Wasser schießen, haben das Freßmanöver initiiert, den Freßgesang angestimmt, den Schwärm anvisiert und den Angriff angeführt. Zwei außergewöhnlich große, alte Buckelwale mit vielen Narben, ein Paar, übernahmen im Lauf eines Sommers die Führung neuer Herden. Bisher wurden keine Auseinandersetzungen um den Rang in der Herde beobachtet. Die Jagd erfolgt offenbar kooperativ, nicht konkurrierend. Gelegentlich lösen sich zwei Wale bei der Führung einer Herde ab.

Natürlich sind noch viele Fragen offen. Über die Kommunikation der Wale weiß man fast nichts. So gut wie sicher ist dank Cynthia D'Vincent. daß der Tod eines Tieres aus einer Walherde nicht nur einen Verlust von Fortpflanzungskapazität und genetischer Erbinformation, sondern auch tradierter Fähigkeiten bedeutet. Da die Walfänger auf die größten Exemplare aus sind, schießen sie vorzugsweise ältere Tiere, also jene, die eine FührungsroHe spielen und einen besonders großen Teil der zum Überleben wichtigen Informationen gespeichert haben.

Von schätzungsweise 250.000 Bläuwalen sind noch 600 (!) übrig. Vom Buckelwal, dem fünftgrößten Wal (30 bis 45 Tonnen), leben nur noch 5.000 bis 10.000. Gejagt wird er noch immer, offiziell zu „wissenschaftlichen Zwecken", doch wurde die Beute isländischer „Wissenschaftler" - Walfleisch - bereits auf dem Weg nach Japan in Hamburg gesichtet. Da die Weibchen größer sind, werden trächtige oder säugende Kühe besonders oft geschossen.

Cynthia D'Vincent schrieb über ihre Forschungenein Buch besonderer Art. mit einzig dastehenden Aufnahmen, auch ästhetisch von außerordentlicher Qualität.

REISEN MIT DEN WALEN. Von Cynthia D'Vincent. Mit.Beiträgen von Delphine Haley. Fred A. Sharpe, Petra Deimer, Jim Fowler. Wilhelm Heyne Verlag. München 1990. 224 Seiten, viele Farbbilder. öS 452. 40.

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