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Fruchtbare Zeitkritik

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ENDE DER ANFRAGE. Von Christian Geissler. Verlag RUtten & Loening, München 1967. 334 Seiten. DM 16.80.

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ENDE DER ANFRAGE. Von Christian Geissler. Verlag RUtten & Loening, München 1967. 334 Seiten. DM 16.80.

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1960 erschien im Hamburger Ciaassen-Verlag ein Buch des heute 39jährigen deutschen Autors Christian Geissler, dem er den Titel „Anfrage“ gab. Die Anfrage kommt von einem jungen Mann, der 1939 ein Kind war, und ist an die Eltemgeneratiön gerichtet. Der Mann möchte wissen, wie es in der Zeit des „Tausendjährigen Reiches“ wirklich gewesen ist; wie es zu den KZ-Greueln, zu dem Mord an sechs Millionen Juden kommen konnte; warum es so wenig energische Proteste gab und so viele „Mitläufer“; wie sich die Menschen seines persönlichen Umkreises damals verhalten haben. Er stößt bei seinen Versuchen, Klarheit zu gewinnen, auf betretenes oder beleidigtes Schweigen,- auf Ausweichmanöver, auf Verlegenheit; nur selten auf Schuldgefühle, auf das Bekenntnis des Versagens, auf Unruhe und den Willen, es wenigstens in Zukunft besser zu machen. Geissler bezieht in diesem Buch einen aggressiven Standpunkt aus einem sehr guten Grund, weil er nämlich nur zu oft verdrängte Komplexe ins Blickfeld rücken möchte. Es geht ihm gar nicht so sehr um das, was in jener unseligen Zeit geschah, sondern mehr um unsere heutige Gegenwart, um die Notwendigkeit, wenigstens im Nachhinein zu erkennen, sich au stellen, Schuld zu bekennen, die Konsequenzen zu ziehen, damit das, was war, sich nicht wiederholen möge. Es gibt einen bestürzenden Satz in diesem Buch: „Unsere Väter? Was für ein erbärmlicher, ertappter Haufen! Man schämt sich mit Verlaub! Allerdings, ich weiß, es gewöhnen sich scheinbar viele, von ihren Vätem als Idioten zu sprechen, und eines Tages werden Söhne leben und tun, als gäbe es keine Väter... Wenn Väter schweigen, das heißt lügen, werden die Söhne gefährlich, das heißt, anfällig für Ideologien...“

Geissler sieht also dn der verschwiegenen Vergangenheit eine akute Gefahr für unsere Gegenwart und Zukunft. An diesem Punkt setzt sein letztes Buch „Ende der Anfrage“ an. Der Autor bekennt dazu:

„Als ich mein erstes Buch .Anfrage' schrieb, war ich erstaunt darüber, daß bei uns in der Bundesrepublik aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus keine vernünftige, das heißt politisch wirksame Konsequenz gezogen worden ist. Heute bin ich nicht mehr erstaunt. Ich halte das, was in unserer Gesellschaft an Mißständen aufkommt und sich verfestigt, für eine Folge der bei uns herrschenden... Verhältnisse.

Man kann auf alten Fundamenten kein neues Haus bauen.

Das ist das .Ende der Anfrage'.

Und das ist nicht Resignation, sondern der Ausgangspunkt für die Herstellung von Antworten.“

In einer Funkerzählung, einem Hörspiel, Fernsehstücken, einer Fernsehreportage über das, was einst in Schloß Hartheim bei Linz geschah und was man heute darüber von den Bewohnern hören kann; weiter in vier Reden — drei wurden anläßlich der Kampagnen für Abrüstung 1961, 1964, 1965 gehalten, die vierte in der Universität Hamburg im Zusammenhang mit der Wiederaufführung von Geisslers Fernsehstück „Schlachtvieh“ — wird die deutsche Situation der Gegenwart analysiert, für die es bei uns nicht wenige Parallelen gibt.

Geissler kämpft gegen die Verdummung der Massen durch gefährliche Schlagworte, gegen Maßnahmen, die Menschen manipulieren und zu Objekten machen wollen, gegen den Mißbrauch der Macht und gegen falsche Heldenverehrung. Und er appelliert an die Mitverantwortung des einzelnen für das, „was auf unserer Erde geschieht und was künftig geschehen wird.“ „Wie der Mensch sich in seiner Unvollkommenheit verhält, ob er sie statisch nimmt und sich verführen läßt, unter Verzicht auf noch offene, ungetane, bessere Möglichkeiten, sich in ihr einzurichten hinter verschlossenen Türen — oder ob er den Raum der Unvollkommenheit offenhält in der vernünftigen, auch risikoreichen und anstrengenden Hoffnung, daß viel Falsches richtiger gemacht werden kann vom Menschen — dieser Unterschied wird demnächst entscheiden.“

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