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Liebesbriefe eines Satirikers

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Angesichts der ,,Briefe an Sidonie Nadherny von Borutin“ von Korl Kraus, hört man, fällt es manchen wie Schuppen von den Augen. Aber an Schuppen war jeder selber schuld, wie man doch weiß. Es war immer ein banales Diktum, dieser Satiriker .könne“ nur „hassen“. Schon seine vielen Kehrtwendungen gegenüber zeitweilig geschätzten Dichtern und anderen Erscheinungen, was man sonderbarerweise immer nur ihm angekreidet hat und nicht der Wech-selhaftigkeit der Gegenseite, zeigten doch deutlich: Karl Kraus war stets aufgeschlossen, bevor er zugeknöpft wurde, ein oft genug enttäuschter (nur auf die Dauer nicht zu täuschender) Optimist. Aber wenn er sich einmal von der Echtheit eines Charakters überzeugt hatte, dann blieb es auch dabei. Peter Altenberg zum Beispiel durfte sich die tollsten Eskapaden leisten; Kraus beklagte sie zwar, aber er verdammte den Freund nicht Und erst Sidonie Nadhemy!

Wahrscheinlich war sie seelisch ebenso vielschichtig begabt wie Karl Kraus, übersensibel, freilich ohne seine geistig-seelische und damit moralische Kapazität, mit solchen Anlagen fertig zu werden. Es erweist sich im Rückblick auf die dreiund-zwanzigjährige Beziehung: So wie er ohne sie konnte sie ohne ihn nicht leben, allerdings auch nicht mit ihm. Man sagt jetzt, ihr Zögern, ihr offenes oder verschleiertes Nein und ihre mehrmalige Flucht seien aus Standesrücksichten erfolgt. Es scheint jedoch vielmehr so, daß besagte Rücksichten einen Vorwand bildeten für die — nicht unberechtigte — Furcht vor einer ständigen Tag-und-Nachtnähe des über alles geliebten Genies. Bangte sie etwa um seine Liebe, wenn sie vor seiner Liebe bangte? Es gibt bekanntlich Selbstmordversuche (fast letal ausgehend), die rein demonstrativ gemeint waren. Genausc könnten einem die bald wieder gelöste (und später von neuem erwogene) Verlobung 1915 mit einem italienischen Grafen und erst recht die unbedachte Heirat 1920 mit ihrem Cousin Max Grafen Thun und Hohenstein vorkommen. Denn auch die Ehe währte, noch dazu mit Unterbrechungen, nur wenige Monate. Noch im Heiratsjahr verläßt sie den Gatten endgültig und hat ihn nie wieder gesehen. Aber zu Karl Kraus, den sie wiederholt verließ, hat sie immer wieder zurückgefunden und 1927 brieflich offenbar der Qual eines Daseins ohne ihn so überzeugend Ausdruck gegeben, daß Kraus alsbald nachgab und seine Angst vor neuerlichem Trennungsschmerz überwand. „Wohl kannten die letzten neun Jahre keinen Schatten, keine Entfremdung mehr“, schreibt Sidonie Nadherny am 11. September 1936 in „Mein Nachwort“ zu den Briefen und der Liebe, die aus ihnen sprioht, und sie bekennt, „wie elend war mein Leben, von dem seinen getrennt, wie schmerzlich das Aufwachen zur Erkenntnis schmachvollen Irrens“. Und: „... sein geliebtes, gütiges Lächeln ... sagte mir, bis zum letzten Atemzug, daß er nicht umsonst gekämpft habe für meine Seele, für seine Illusion, für unsere Liebe und Verbundenheit...“

Die 695 Seiten mit den Brieftexten und dem Nachwort von Michael Lazarus, der den verloren geglaubten Briefen auf die Spur gekommen war und sie dann aus der schwer leserlichen Handschrift entziffert hat, und auch die 440 Seiten des Kommentarbandes stellen die private Dokumentation eines Autors vor, der sich sonst nur in seinem Werk zu dokumentieren pflegte. Karl Kraus hat aber dem Gedanken an eine postume Publikation, der von der Briefpartnerin ausgegangen ist zugestimmt. Auch die schwer erarbeiteten „Erläuterungen“ von Friedrich Pfäffln im Band 2 sind vollauf berechtigt. Karl Kraus war zwar gegen „Kommentare“ und „Register“ zu seinem Werk, von dem er annahm, daß es am besten für sich spreche. Aber diese absolut unkorriglerten, oft in großer Hast und Gefühlsaufwallung hingeworfenen Briefe sind kein „Werk“ im sonst bei Kraus üblichen Sinn sondern ein intimes Gespräch mit dem geliebtesten Menschen, in das natürlich zuweilen auch Zeiterscheinungen einbezogen sind.

BRIEFE AN SIDONIE NADHERNY VON BORUTIN. Von Karl Kraus. Zwei Bände, 1135 Seiten. Kösel-V'erlag, München 1974.

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